Perspektivwechsel Richtung Zukunftsfähigkeit

Was Unternehmen von sozialen Organisationen lernen können

Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Der soziale Sektor bietet für interessierte Köpfe viele Impulse für  unternehmerische Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Um die Erfahrungen daraus zu nutzen, müssen Unternehmen dauerhafte Berührungspunkte in andere Erfahrungswelten schaffen.

Digitalisierung, Fachkräftemangel, Klima­wandel, Globalisierung, politische Unsicher­heiten, Regulierung, New Work, VUCA-Welt — Unternehmen sehen sich wie selten zuvor enormen strategischen Herausforderungen ausgesetzt. Sie müssen sich auf vielfältige Weise weiterentwickeln, um ihre Wettbewerbs- und Innovations­fähigkeit zu erhalten. Ein sich rapide wandelndes Marktumfeld und neue Ansprüche von Kunden, Fachkräften, Kapital­gebern und Staat erfordern neue Denkweisen und Impulse für unter­nehmerisches Handeln im 21. Jahrhundert. Neue Ideen sind gefragt.

Es ist interessant zu beobachten, dass auf der Suche nach Antworten der Erfahrungs­schatz eines großen gesellschaftlichen Bereiches nahezu unbeachtet bleibt. Ein Bereich, der allein in Deutschland in über 630.000 Organi­sationen über 4 Millionen Arbeitsplätze bietet und mit seiner Bruttowertschöpfung von mehr als 160 Milliarden Euro in etwa der ökono­mischen Bedeutung der deutschen Bauwirt­schaft entspricht. Ein Bereich zudem, der für um die 30 Millionen Menschen hierzulande attraktiv genug ist, sich ohne finanzielle Gegen­leistung zu engagieren. Die Rede ist vom sozialen Sektor mit seinen Vereinen, Unter­nehmen, Stiftungen, Genossen­schaften und freien Initiativen — egal ob formal gemein­nützig oder nicht, traditio­neller Wohlfahrts­verband oder modernes social startup. Er schließt so unterschiedliche Tätigkeitsfelder wie Alten­­­­pflege und Umweltschutz genauso ein wie Arbeitsmarktintegration, Sport oder Demokratieförderung. Er steht vielfach für Dienstleistungen und Fürsorge für Menschen, soziale Innovation, gesell­schaftliche Entwick­lung, Sinnorientierung. Er ist eine Erfolgs­geschichte. Ohne ihn wäre unsere Gesellschaft kaum denkbar — allen schwierigen Rahmen­bedingungen und natürlich auch nicht zu bestreitenden Funktionsdefiziten zum Trotz. Kaum vor­stellbar, dass hier nicht auch Impulse für unter­nehmerische Herausforderungen zu finden sind. Die Liste der Lernfelder ist lang:

New Work & Co

Viva con Agua etwa, die mittlerweile inter­natio­­nal agierende Trinkwasser-Initiative, zeigt auf beeindruckende Weise, wie innerhalb kürzester Zeit ein breiter Stamm an hoch­moti­vierten Mitwirkenden ohne Entgelt aufge­baut wird — und das standortverteilt. Kiron, ein Hoch­schul­bildungs­angebot für Geflüchtete und andere benachteiligte Gruppen, überzeugt mit hochgradig innovativen Formen der lernenden und selbstorganisierten Organi­sations­gestal­tung. youvo.org, eine Vermitt­lungs­­plattform für ehrenamtliche Kreative, ist ein Muster­beispiel agiler und ziel­gruppen­orientierter Produkt­entwicklung. Und natürlich der vielbe­achtete think-tank an der Schnittstelle von Digitali­sierung und Gemeinwohl, das betterplace lab, das eine intensive Trans­formation in die Selbst­organisation durchlaufen hat. Schon diese Beispiele zeigen, dass auch soziale Organi­sationen interessante Impuls­geber für die Re-Organisation von Arbeit sein können.

Innovation & Märkte

Scheinbar so gegensätzliche Akteure wie etablierte Projekte der sozialen Arbeit, z.B. Off Road Kids für obdachlose Jugendliche oder der Kältebus für Obdachlose und neuere Bewegungen wie Fridays for Future oder AlgorithmWatch eint, mit dem Ohr am Puls der Zeit zu sein. Sie kennen gesellschaftliche Bedarfe und Trends aus erster Hand und besitzeneine besondere Form der “krea­tiven Wachsamkeit” für zukünftige Ent­wicklungen und Chancen, deren Grund­prinzipien sich auch Unternehmen zu Nutze machen können. Ihre besondere Fähigkeit liegt in der sozialen Innovation. Aufgrund sich rapide ändernder sozialer Problem­lagen und Rahmenbedingung­en entwickeln sie ständig neue Lösungsansätze für soziale Herausforderungen und überführen diese in kürzester Zeit in die Praxis. Social startups sind also Entrepreneurs der guten Sache und verstehen es vielfach, aus der Beobach­tung einer Problemlage sehr agil eine Lösungs­strategie zu entwickeln und nach­haltig umzusetzen — oft inklusive trag­fähiger finanzieller Geschäftsmodelle. Wer an gesell­schaftliche Entwicklungen partizipieren und von ihnen profitieren will, kommt also um eine Öffnung zu solchen Akteuren mit sozialer Innovationsexpertise nicht umhin.

Eine solche Wachsamkeit ist für Unter­nehmen schon aus Gründen der Inno­vati­ons­fähigkeitund der Risiko­vorsorge notwendig — wer sich beizeiten etwa mit Initiativen zu Plastikver­meid­ung in Ozeanen wie dem Ocean Blue Project oder mit Verpackungsreduzierung wie die zahlreichen Unverpackt-Läden beschäftigt hätte, hätte jetzt angesichts aktueller und bevorstehender staatlicher Regulierung im Bereich globaler Herausforderungen wie Klima oder Menschenrechte schon durch Produkt­innovationen im Portfolio Vorsorge getroffen. Komparative Wettbewerbs­vor­teile wären zudem eine nicht unwesentliche Begleit­erscheinung. Dies gilt nicht zuletzt, da den globalen Herausforderungen der Menschheit naturgemäß eine schiere quantitative Größe inne liegt — eine Größe, die natürlich auch erhebliche Potentiale für neue Märkte mit sich bringt. Sozialunternehmen wie Sharefoods, Fairphone, oder Soulbottles nutzen diese Potentiale schon heute für sich aus. Inno­vations­inkubatoren großer Unternehmen nehmen die Social Development Goals (SDG) daher bereits heute mit in den Kriterien­katalog zur Prüfung der Marktfähigkeit mit auf.

Purpose

Wer etwas über die integrierende Kraft von Sinnorientierung und Purpose und deren Entfaltung erfahren möchte, findet in diesem Bereich unendlich viele Anre­gung­en. Ob bei foodsharing-Projekten, bei Umwelt­­schutz­initiativen wie dem Bund für Umwelt und Naturschutz, in politisch orientierten Organi­sationen wie KleinerFünf gegen Rechtspopu­lisimus und #ichbinhier für digitale Zivil­courage im Internet oder im “klassischem Ehrenamt” wie Feuerwehr, Sport­­vereinen oder im Hospitzdienst: Die kontinuierliche Arbeit und die Wirkung dieser Organisationen und Projekte wäre nicht möglich ohne die vielen Menschen, die sich dauerhaft und in großer Zahl hinter deren sinnstiftenden Zielen versammeln. Die soziale Mission dieser Organisationen dient als belastbarer Inte­grati­ons­punkt für alle Stakeholder.Sie ermöglicht die Hebung unschätzbarer Ressourcen. Natürlich darf die prekäre Bezahlung vieler Menschen im sozialen Sektor nicht margi­nalisiert werden. Und auch die Diskussion darüber, ob ehrenamtlich erbrachte Leistungen nicht Lückenfüller eigentlich von staatlichen Stellen zu erbringender Daseinsvorsorge sind, muss ernsthaft geführt werden. Es bleibt jedoch vorbildlich, welche Integrationskraft die soziale Mission von hunderttausenden Organisationen in diesem Bereich besitzt. Wie es gelingen kann, eine solche Mission glaub­haft zu entwickelt und als integralen Bestand­teil einer Organisation dauerhaft zu veran­kern — das lässt sich im sozialen Bereich idealtypisch studieren.

Neue Führung

Leadership und Partizipative Führung ohne disziplinarische Druckmittel — das ist in der Zusammenarbeit mit ehrenamtlichen Mitar­beitenden Alltag. Überwiegend ehrenamtlich getragene Organisationen wie zum Beispiel Urban Gardening-Initiativen, die Tafeln zur Lebensmittelversorgung oder die zahlreichen Mentorenprogramme für gesellschaftliche Teilhabe wären ohne kluges und komplexes Ehrenamts­manage­ment nicht möglich. Nicht umsonst ist das Berufsbild des/der “Ehrenamts­managers/ in” mittlerweile weit verbreitet und ist Ausdruck einer weitreichenden Professio­nalisierung in diesem Bereich.Wer schon einmal eine Organisation mit Ehren­amtlichen aufgebaut und geleitet hat, ist gut gerüstet für die Herausforderungen im Führungsalltag von Unternehmen. Die Leitlinien transformatio­naler Führung wie Vorbild, Inspiration, Stimulation, Empathie und Selbstorganisation können im Engagementbereich erlebt und trainiert werden. Sicherlich kein einfacher Weg — aber eine wichtige Erfahrung für Führungs­­kräfte in Unter­nehmen, die moderne Prinzipien der Arbeit für sich entdecken. Dass der soziale Sektor im Bereich demokratischer Teilhabe und politischer Positionierung darüber hinaus naturgemäß Erfahrungs­vorsprünge hat, liegt in der Natur der Sache. Für Unter­nehmen, die sich im Bereich der internen Demokratiefähigkeit und hinsichtlich ihrer Rolle als Corporate Citizen in einem sich zunehmend polari­sierenden Umfeld weiter entwickelnwollen, dürfte hier ebenfalls ein inter­essantes Lernfeld liegen.

Impact & Transparenz

Ganzheitliche Wirkung definiert sich im sozialen Bereich naturgemäß nicht nur an finanziellen Indikatoren. Im Zentrum steht der Beitrag eines “Produktes” zur Lösung eines sozialen Problems. Dabei werden auch in der Entstehung des Produktes enthaltene Risiken und negative Folgen mit betrachtet. Wie in klassischen Unter­nehmen auch sehen sich soziale Organi­sationen mit den gestiegenen Anforder­ungen ihrer Stakeholder konfrontiert. Dies umso mehr, wenn sie es mit sogenannten Impact Investoren zu tun haben — also Geld­gebern, die Ihr Investment an eine messbare gesellschaftliche Wirkung knüpfen. Dieser Bereich ist insbesondere in den letzten zwanzig Jahren weltweit stark gewachsen. Er war ein frühes Vorzeichen für sich mittlerweile verschärfende Pflichten zu nicht-finanzieller Bericht­erstattung und Einhaltung von sozialen und ökologischen Standards. Auch herkömm­liche Investoren betrachten diese Elemente mittlerweile als Teil des Risikomanage­ments und prüfen ihre Investitionen nicht nur über die finanzielle Renditeerwartung, sondern auch die damit verbundenen Nachhaltigkeitsrisiken.

Viele soziale Organisationen sind gerade in diesem Bereich naturgemäß Vorreiter. Sie sind es schlichtweg gewöhnt, ökologisch und sozial nachhaltig zu wirtschaften und ihren Förderern und Investoren Auskunft über solche Aspekte ihrer Arbeit zu geben — sie stehen ja sogar im Mittelpunkt. Wer sich die Wirkungsberichte etwa vom Bildungsprojekt für SchülerInnen Gemüse Ackerdemie, der Petitionsplattform change.org oder dem Spenden­sammelprojekt Aufrunden bitte anschaut, findet sehr gute Beispiele für diese Kompe­tenz einer ganzheit­lichen Dar­stellung. Diese Fähigkeit kann als Akt der Risiko­vorsorge verstanden werden — mindestens aber als Kernkompetenz, über finanzielle Aspekte hinausgehende Effekte der eigenen “Produkte” zu planen, zu messen und zu beschreiben.

Kooperation & Komplexität

Komplexe Herausforderungen lassen sich nur selten alleine lösen. Das hat auch der soziale Sektor längst erkannt und arbeitet in schlag­kräftigen Kooperationen gemeinsam an sozialen Problemlösungsstrategien. Dabei werden durchaus auch Sektor­grenzen über­schritten und es entstehen dem Collective-Impact-Ansatz folgend auch ungewöhnliche Allianzen. Ob die Kooperation zwischen WWF und Edeka, zwischen Adidas und Parley for the Ocean, zwischen soulbottles, ProjectTogether und der Röchlin Stiftung beim soulincubator oder zwischen BMFSFJ und 6 weiteren Stiftungen in der Engagierten Stadt. Gesell­schaftlicher Fortschritt gelingt nicht mehr im Austragen von ideologischen Konflikten, sondern nur durch neuartige und mutige Kooperationen. Mutiges Kooperieren bedeutet, die relevantesten Stakeholder eines Problems hinter eine gemeinsame Mission zu bringen und Ressourcen intelligent zu bündeln. Dabei werden Kompetenzen benötigt, die nicht zwingend auf den Einarbeitungsplänen von Unternehmen stehen: Überwinden von Silo­denken, Denken in komplexen Wirkungs­zusammenhängen, Zurückstellen einer Egois­men, Finden gemeinsamer Positionen und Kompromissfähigkeit zugunsten höherer (Wirkungs)ziele.

Resilienz

Arbeiten mit knappen Ressourcen und die Verbindung von Ökonomie mit sozialen Wirkungs­ansprüchen — was in Zeiten drohender Rezession wie eine neue Heraus­forderung erscheint, ist für die meisten sozialen Organisationen schon immer Standard. Und viele meistern diese Herausforderung mit Bravur. Sei es ProjectTogether als Inkubator-Programm für soziale Initiativen, Das Geld hängt an den Bäumen als Projekt zur Nutzung “vergessener Ressourcen”, Dialog im Dunkeln zur Sensibilisierung für die Bedarfe von Menschen mit Handicap oder Impact Hubs als Coworking-Spaces für wirkungs­orientierte Organisationen — es gibt Hunderte solcher Vorbilder, die auf erstaunliche Weise den nicht immer leichten Drahtseilakt zwischen Sinn­orientierung und finanziellen Notwendig­keiten schaffen. Sie zeigen, dass kluges Wirt­schaften auch ohne Gewinnmaximi­erungs­prinzip funktionieren kann. Ihre in ihrer Organi­­sations-DNA eingewebte Resilienz kann als Vorbild für manch schlingerndes Unternehmen dienen.

Das Touchpoints-Modell

Die Liste der Lernfelder ließe sich beliebig verlängern. Ganz gleich ob Sinn- und Wirkungs­orientierung, Innovationskraft, Diversity-Kompetenz, Vernetztes Denken, Empathie, Kooperationsfähigkeit, Organi­sationskultur, Risikomanagement, Employer Branding oder Führung: Der mitunter als unprofessionell abgetane soziale Sektor hält viele Überraschungen für interessierte Geister bereit. Doch wie können diese Lernerfahrungen entstehen?

Für Unternehmen ist es sinnvoll, hierfür nicht auf einzelne, isolierte Maßnahmen zu setzen, da dies zu leider in der Praxis häufig zu beo­bachtenden gut gemeinten, aber von den Wert­schöpfungsprozessen ansonsten abgedockten Corporate Volunteering-Programmen führt, deren tiefergehende Effekte nicht wirklich strukturiert für das Unternehmen sichtbar gemacht werden.

Lern- und Transferprozesse müssen vielmehr auf mehreren Ebenen erfolgen, sollten mitei­nander in Beziehung gesetzt werden und brauchen Zeit. Es hat sich bewährt, dabei verschiedene “Touchpoints”, also Berührungs­punkte zu sozialen Initiativen und sozialem Engagement, zu identifizieren. Das kann von den privaten Engagementerfahrungen der Mitar­­bei­t­enden und Learning Journeys über Pro Bono-Leistungen des Unter­nehmens, “Social Challenges” und gezielte Kooperationen mit sozialen Projekten bis hin zu einer dauerhaften Aufnahme sozial­unternehmerischer Elemente in die eigene Tätigkeit, Impact Investing-Strukturen und einer strate­gischen Ausrichtung des Unter­nehmens an die Social Development Goals (SDG) im Rahmen einer dezidierten Corporate Responsability-Strategie reichen. Wichtig ist, dass die Maßnahmen dem Bedarf des Unternehmens angemessen erfolgen und dem Reife- und Erfahrungs­grad des Unter­nehmens entsprechen. Über konti­nuierliche Reflexions- und Trans­ferschritte muss die konse­quente Nutzbar­machung der Erfahrungen für die Mitarbeiter und die Wert­schöpfungs­prozesse sichergestellt werden.

Auf eine Selbstverständlichkeit muss dabei besonders hingewiesen werden: Organisationen des sozialen Sektors sind dabei keineswegs Hilfeempfänger, sondern werden selbst zu Impulsgebern und Wissensträgern. Es ist unabdingbar, Ihnen auf Augenhöhe zu begegnen und die Berührungspunkte so zu gestalten, dass auch für sie ein konkreter und passender Nutzen erkennbar wird. Der kann sowohl fachlicher als auch finanzieller Natur sein und sollte immer dazu beitragen, die ohne­hin prekäre Ressourcensituation der meisten sozialen Organisationen zu verbessern. Es geht dabei weniger um einen Akt der Wohl­tätigkeit, sondern vielmehr um Investi­tionen in die eigene Zukunftsfähigkeit.

In Summe sollten diese Maßnahmen dazu führen, Unternehmen strukturell dauerhaft — vergleichbar mit einer Membran — durchlässig zu machen für Lernerfahrungen aus dem sozialen Sektor. Gelingt dies, können daraus wertvolle Impulse für die eigene Zukunfts­fähigkeit und kluge Antworten auf die unter­nehmer­ischen Herausforderungen im 21. Jahr­hundert entstehen.

Autor: Thomas Leppert. Erschienen am 26.09.2019 bei der tbd.community

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