Unternehmen sind gut beraten, die beiden Megatrends Digitalisierung und Nachhaltigkeit nicht gesondert voneinander zu betrachten, sondern zusammen zu denken. Der Erhalt ihrer Zukunftsfähigkeit erfordert für Unternehmen eine strategische Zusammenschau beider Themen. Wir schlagen dazu ein einfaches Vorgehensmodell vor, um erste Ansatzpunkte für eine strategische Integration zu entwickeln.
Zwei Megatrends haben Konjunktur
Nachhaltigkeit und Digitalisierung sind zwei aktuelle Megathemen, die gesamtgesellschaftlich, aber auch für Unternehmen von zentraler Bedeutung sind. Das Bewusstsein beispielsweise für den Klimawandel ist so hoch wie noch nie – wie ein aktueller Bericht des UNO-Entwicklungsprogramms und der Oxford Universität (Spiegel online 2021) zeigt. Und die Digitalisierung hat insbesondere durch die Corona-Krise einen deutlichen Schub bekommen, ist es doch häufig der einzige Weg, um im Lockdown aus dem Home-Office zu arbeiten oder über einen Online-Shop noch Produkte zu verkaufen.
Alte Bekannte im Wettlauf
Digitalisierung ist kein neues Phänomen. Die Umsetzung ehemals analoger oder mechanischer Prozesse in die digitale Welt und Übersetzung in Rechnerleistung beschäftigt uns seit Mitte des 20sten Jahrhunderts. Durch die exponentiell zugenommene Quantität an Datenspeicherungs-, Verarbeitungs- und Vernetzungskapazitäten hat der Prozess der Umwandlung und Nutzung von analogen Informationen in digitale Form extrem an Geschwindigkeit und Bedeutung gewonnen, die nicht nur für Unternehmen, sondern auch gesamtgesellschaftliche Auswirkungen besitzen.
Auch der Begriff Nachhaltigkeit blickt auf eine längere Tradition zurück. Ursprünglich aus der Forstwirtschaft kommend und mit dem Brundtland-Bericht im Jahre 1987 weiterentwickelt, wird damit die „dauerhafte Entwicklung [bezeichnet] (…), die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ (Hauff 1987, S. 46). Damit das gelingen kann, gilt es, ökonomische, ökologische und soziale Anforderungen gleichermaßen in Einklang zu bringen. Dass etwa der Klimawandel eine ernstzunehmende Bedrohung für Mensch und Umwelt darstellt, ist spätestens seit den 80ern wissenschaftlicher Konsens und medial bekannt. Unter anderem durch die mittlerweile deutlicher zutage tretenden Folgen und Initiativen wie die Fridays4Future-Bewegung wird das Nachhaltigkeitsthema zur großen gesellschaftlichen Herausforderung.
Beide Entwicklungen haben natürlich auch bereits in Unternehmen Fuß gefasst. Corporate (Social) Responsibility wird von vielen Unternehmen aktiv betrieben und natürlich hat die Digitalisierungswelle längst große Bereiche der Wirtschaft erfasst. Beide Entwicklungen eint übrigens, dass sie häufig noch ohne klare strategische Einordnung erfolgen.
Schauen wir derzeit auf die Umsetzung dieser beiden Themen in den Unternehmen, so lässt sich jedoch beobachten, dass das Thema Digitalisierung aktuell breiter umgesetzt wird, als das für das Thema Nachhaltigkeit der Fall ist. Die oben genannten Rahmenbedingungen und weiterer Effizienzdruck führen dazu, dass das Thema in den Unternehmen stärker priorisiert wird. Unternehmen setzen sich aktuell intensiv damit auseinander, wie sie Geschäftsprozesse digitalisieren können, neue digitale Lösungen und Produkte entwickeln können oder wie sich sogar ihr Geschäftsmodell grundsätzlich verändert und daher eine digitale Transformation erforderlich wird.
Digitalisierung ohne Nachhaltigkeit birgt Risiken
Es ist jedoch offensichtlich, dass die Digitalisierungsstrategien, wenn sie nicht gleichzeitig auch Nachhaltigkeitsaspekte mit berücksichtigen, Risiken bergen oder zumindest unternehmerische Chancen liegen lassen.
Die gestiegenen Erwartungen von Endverbrauchern stehen dabei natürlich im Mittelpunkt. Mehr und mehr wählen auch Unternehmen ihre Lieferanten nach strengeren Nachhaltigkeitskriterien aus. Aber auch die Tatsache, dass die für die Digitalisierung so dringend benötigten Fachkräfte immer häufiger auch nach nachhaltig ausgerichteten Unternehmen und „Purpose“ suchen, macht es ratsam, beide Megatrends zusammenzudenken. Auch Finanzmittel für die benötigten Investitionen sind immer häufiger an den Nachweis von wirksamen Nachhaltigkeitsmaßnahmen und ESG (Environmental Social Governance)-konformen Geschäftsmodellen gekoppelt. Regulatorische Richtlinien zur stärkeren Nachhaltigkeit im unternehmerischen Handeln sind heute bereits Praxis und werden sich in Zukunft noch verstärken. Unternehmen sind also gut beraten, gerade im aktuellen Digitalisierungsschub auch nachhaltige Konzepte im Sinne von sozialen und ökologischen Aspekten mit zu berücksichtigen, um ihre Zukunftsfähigkeit zu stärken.
Die Praxis nachhaltiger Digitalisierung
Aber wie kommt jetzt das Nachhaltige in das Digitale? Wir haben dazu einen Vorgehensvorschlag entwickelt, den wir entlang eines Beispiels eines Unternehmens aus der Elektro-Industrie veranschaulichen. Die oben genannten Risiken werden für das Unternehmen relevant, sodass Nachhaltigkeitsüberlegungen die bestehende Digitalisierungsstrategie ergänzen sollen.
Stellen wir uns vor, dass das Unternehmen eine Digitalisierungsstrategie entwickelt hat und sich damit in den kommenden 10 Jahren transformieren möchte: Weg von einem Produkte- bzw. Geräteanbieter hin zu einem Lösungsanbieter. Die produzierten Elektrogeräte sollen nicht mehr alleinstehend als Produkte verkauft werden. Vielmehr werden außerdem für den Umgang mit den Daten, die durch das Gerät zur Verfügung stehen, für den Kunden ganze Lösungspakete angeboten.
Unsere Empfehlung ist ein Vorgehen, dass zwei Perspektiven einnimmt:
Perspektive 1: Nachhaltigkeit in der digitalen Wertschöpfung
Die erste Perspektive stellt die Frage, wie die bestehende Digitalisierung – Verbesserung der Geschäftsprozesse und Entwicklung der ganzheitlichen hard- und softwarebasierten Lösungspakete – nachhaltiger wird. Häufig wird aus dieser Perspektive vor allem die ökologische Dimension beispielsweise mit emissionsarmem Rechenzentrumsbetrieb oder CO2-neutraler Produktion betont. Aber auch soziale Aspekte wie beispielsweise der verantwortliche Umgang mit entstehenden Daten, diskriminierungsfreiem Einsatz von Algorithmen oder Obsoleszenz von Hard- und Software können bei der nachhaltigen Gestaltung digitaler Produkte und ihrer Wertschöpfungsketten eine erhebliche Rolle spielen.
Perspektive 2: Tech4Good
Die zweite Perspektive betrachtet die entwickelten Hard- und Softwarelösungen und fragt danach, wie diese für Nachhaltigkeit im Sinne ökologischer oder sozialer Zwecke genutzt werden können.
Dies ist ein eher kreatives und innovatives Feld, mit dem neue Ideen für eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft aus der eigenen Digitalisierung abgeleitet werden. Häufig verbirgt sich hinter diesem Ansatz aber auch Geschäftspotenzial und es lassen sich damit neue Marktnischen erschließen.
Der große Bereich der „Green Technology“ ist dafür ebenso ein Beispiel wie Angebote für Forschungseinrichtungen, die vormals vielleicht noch nicht Zielgruppe des Unternehmens waren. Zahlreiche Startups basieren mittlerweile auf der Nutzung digitaler Technologien für soziale oder ökologische Zwecke. Rund 30 Prozent aller Startups bezeichnen sich selbst als „green“ (Green Startup Monitor 2020) – Tesla, Fairphone oder Ecosia sind darunter bekannte Beispiele. Sie können mit ihrem Fokus auf ökologische und soziale Innovationen als Innovationstreiber bezeichnet werden mit dem Potential, ganze Branchen zu revolutionieren.
Bei der Synthese von Digitalisierung- und Nachhaltigkeitsstrategie gehen wir davon aus, zunächst mit Perspektive 1 zu starten und dann Perspektive 2 zu integrieren. Ausgangspunkt ist eine bestehende Digitalisierungsstrategie.
Schritt 1: Partizipative 360o-Analyse und Themensammlung
In der Regel bietet es sich an, zunächst die erste Perspektive mit dem Blick auf bestehende Prozesse einzunehmen, um Potentiale für Optimierungen der eigenen Produkte zu identifizieren und Themen zu sammeln. Dafür werden das Unternehmen, der Wettbewerb und die Stakeholder analysiert.
Für das Unternehmen wird jeweils die gesamte digitalisierte Wertschöpfungskette betrachtet – also die vorgelagerten Schritte, die Wertschöpfung im Unternehmen selbst und die nachgelagerten Schritte. Entlang der Wertschöpfungskette lassen sich über vier einfache Fragen Themen sammeln und so eine erste Annäherung an die Nachhaltigkeit in der Digitalisierung finden:
– Was können wir kompensieren?
– Was können wir vermindern?
– Was können wir vermeiden?
– Und was können wir verbessern?
Der Vergleich der Wettbewerber mit dem Unternehmen und die Sicht der Stakeholder bieten weitere Ansatzpunkte, wie die Digitalisierungsstrategie nachhaltiger werden kann. Mit Blick auf den Wettbewerb wird die Frage gestellt, was der Wettbewerb beim Thema Nachhaltigkeit macht und was dieser vielleicht schon besser macht? Anschließend wird die Stakeholdersicht eingenommen: Welche Herausforderungen bringen die Stakeholder auf den Tisch? Welche Lösungsansätze sehen sie vielleicht schon? Was können wir aus Sicht der Stakeholder besser machen?
Bei diesem Schritt kann es ratsam sein, externe Partner an Bord zu holen und beispielsweise Organisationen aus dem sozialen Sektor als Impulsgeber zu gewinnen. Sie sind häufig Expert:innen bei der Beurteilung von Technikfolgen in ökologischer und sozialer Hinsicht.
Diese Fragen lassen sich später auch für einen partizipativen Ansatz auch unter Beteiligung der Mitarbeitenden nutzen. Man wird überrascht sein, welche Ansatzpunkte die Mitarbeitenden sehen und welche Lösungsideen sie einbringen.
Für ein Beispielunternehmen könnte sich zum Beispiel folgende Themensammlung ergeben: Emissionsfreier Rechenzentrumsbetrieb, Soziale Standards für Zulieferer, Wiederverwendung von Hardware, Datensicherheit, Diversität in der Softwareentwicklung usw.
Schritt 2: Wesentlichkeitsmatrix und Trade-Offs
Die auf diese Weise entstandene Themensammlung lässt sich im nächsten Schritt in eine Wesentlichkeitsmatrix einordnen. Mit diesem Instrument werden die Themen identifiziert, die für das Unternehmen aus einer Nachhaltigkeitsperspektive von besonderer Bedeutung sind. Dabei werden die gesammelten Themen nach ihrer Relevanz für das Unternehmen und für die Stakeholder zugeordnet. Die Themen mit einer hohen Relevanz für beide Seiten sollten auf jeden Fall ihren Niederschlag auch in der Digitalisierungsstrategie finden.
Wesentlichkeitsmatrix (Systain 2018)
Eine Priorisierung ergibt sich möglicherweise aus der Frage, welche Themen den höchsten Einfluss auf den Unternehmenserfolg besitzen. Dieser Einfluss kann sowohl positiv ausfallen – beispielsweise, wenn Emissionseinsparungen auch mit Kosteneinsparungen einher gehen – als auch negativ sein – beispielsweise, wenn die Umsetzung von Sozialstandards bei Zulieferern mit zusätzlichem Aufwand verbunden ist. Diese sogenannten Trade-offs oder Zielkonflikte sind wichtig im Nachhaltigkeitsmanagement und sollten auf jeden Fall betrachtet und diskutiert werden.
Eingeordnet und priorisiert ergeben sich für unser Beispielunternehmen die Themen emissionsfreier Rechenzentrumsbetrieb und Sicherstellung von Sozialstandards bei den Zulieferern.
Schritt 3: Digitalisierungsstrategie ergänzen
Im Anschluss an die 360o-Analyse, die Themensammlung, die Erstellung einer Wesentlichkeitsmatrix sowie einer Priorisierung inklusive Diskussion möglicher Trade-Offs lässt sich aus diesen Erkenntnissen eine strategische Aussage als Ergänzung zur Digitalisierungsstrategie formulieren. Sie beschreibt, an welchen Punkten der bisherigen Digitalisierungsstrategie Nachhaltigkeitsmaßnahmen aus der ersten Perspektive ansetzen können.Für unser Beispielunternehmen wären dies Aussagen zum emissionsfreier Rechenzentrumsbetrieb und Sicherstellung von Sozialstandards bei den Zulieferern. Wenn ein solcher erster Formulierungsentwurf entstanden ist, sollte dieser in weiteren Runden diskutiert und konkretisiert werden.
Schritt 4: Integration „Tech4Good“
Nachdem die Frage danach, wie die Digitalisierung nachhaltiger werden kann, mit den vorangegangenen Schritten beantwortet worden ist, lässt sich nun noch die Frage aus der zweitgenannten Perspektive „Tech4Good“ betrachten, wie die Digitalisierung des Unternehmens für Nachhaltigkeit eingesetzt werden kann.
Hier bietet es sich an zunächst einen Blick auf die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen zu werfen (United Nations 2017).
Die 17 Ziele der Sustainable Development Goals (SDG) bieten auch für Unternehmen eine pragmatische Orientierung, in welchen Feldern sich das Unternehmen zur Verfolgung von Nachhaltigkeitszielen betätigen will.
Entweder weil es aus Unternehmens-, Wettbewerbs- oder Stakeholdersicht einzelne Ziele gibt, die im Sinne der Wesentlichkeitsmatrix eine besondere Relevanz für das Unternehmen besitzen oder weil andere Überzeugungen und Werte des Unternehmens dazu führen, sich auf einzelne Ziele zu fokussieren. Diese Herausforderungen werden in der Wesentlichkeitsmatrix ergänzt, noch einmal mit Blick auf den Einfluss auf den Unternehmenserfolg priorisiert und mögliche Trade-offs identifiziert. Nicht zuletzt ergeben sich auch hieraus Ergänzungen für die Digitalisierungsstrategie.
Für unser Beispielunternehmen könnte sich aus der Frage nach Tech4Good folgende Überlegung ergeben: Wie lassen sich die Softwarelösungen und Geräte künftig für den Klimaschutz einsetzen? Mit seiner Digitalisierungsstrategie ist das Unternehmen vielleicht schon Vorreiter in der Elektrobranche und könnte das jetzt mit der nachhaltigen Digitalisierung weiter ausbauen. Aus den bisherigen Erkenntnissen lassen sich dafür beispielsweise zwei ergänzende Strategieaussagen entwickeln: „
– Wir wollen einen klimaneutralen Produktionsprozess erreichen und damit die Digitalisierung nachhaltiger gestalten.“
– „Wir wollen unsere Hard- und Softwarelösungen für das SDG 13 (Maßnahmen zum Klimaschutz) einsetzen und uns an Projekten beteiligen, mit denen Daten zum Klimaschutz gesammelt werden.“
An die Frage, ob sich noch eine weitere strategische Aussage ergibt, die aufgenommen werden soll, schließt sich noch die Diskussion zum weiteren Vorgehen an, um zum einen die strategischen Aussagen zu finalisieren und zum anderen erste Projekte zur Umsetzung der Strategie zu planen. Um nun auch konkret zu werden, sollte ein Maßnahmenplan erstellt werden.
Entwicklung im Dialog
Die Integration beider Geschäftsstrategien sowohl im Bereich der Digitalisierung als auch im Bereich der Nachhaltigkeit kann nicht ohne den intensiven Austausch mit den Stakeholder einer Organisation gelingen. Mit dem skizzierten dialogorientierten Vorgehen finden sich auf die Frage, wie die Digitalisierungsstrategie eines Unternehmens um Nachhaltigkeitsaspekte ergänzt werden kann, in wenigen Schritten erste Antworten. In einem ersten Workshop im Geschäftsführungskreis und anschließend zusammen mit den Führungskräften lassen sich ergänzende Strategieaussagen formulieren. In Dialogformaten können in weiteren Runden auch die Mitarbeitenden beteiligt werden und ihre Ideen die nachhaltige Digitalisierung ergänzen. Die Einbindung von Stakeholdern, beispielsweise Umweltorganisationen oder soziale Initiativen bringen neue Impulse in diesen Dialog.
Quellen
Borderstep Institut für Innovation und Nachhaltigkeit / Bundesverband Deutsche Startups
e. V. (2021): Green Startup Monitor
https://deutschestartups.org/wp-content/uploads/2020/04/Green-Startup-Monitor-2020.pdf, Abruf vom 28.8.2021
Hauff, V. (1987) (Hrsg.): Unsere gemeinsame Zukunft [der Brundtland-Bericht] / Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Greven.
Spiegel online (2021): Zwei Drittel der Menschen sehen Klimakrise als „globalen Notfall“, https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/uno-drei-viertel-der-menschen-sehen-klimawandel-als-globalen-notfall-a-6514d174-1cc2-45ce-8409-bf7fc38617bf, Abruf vom 28.08.2021
Systain (2018): 7 Erfolgsfaktoren für eine gute Wesentlichkeitsanalyse, Whitepaper, https://www.systain.com/einblicke/studien/erfolgsfaktoren-fuer-eine-gute-wesentlichkeitsanalyse/, Abruf vom 3.7.2023
United Nations 2017: Ziele für nachhaltige Entwicklung, https://unric.org/de/17ziele/, Abruf